Basisdemokratie? It's an illusion!

Die SPD hat es binnen weniger Jahre geschafft, sich in Bayern zwei Mal als „Mitmachpartei“ zu präsentieren. In beiden Fällen allerdings konnte sich die Parteielite mit ihrem Politikangebot durchsetzen. Wie passen also Basisdemokratie, innovative Politik und die Vorstellungen der Parteiführung zusammen? Sind basisdemokratische Beteiligungsverfahren am Ende nur Mitmach-Feigenblätter, die sich die Parteielite umhängen kann, ohne den eigenen Einflussbereich aufgeben zu müssen? Werfen wir einen genaueren Blick auf die beiden prominenten Fälle des Mitgliedervotums: Die Abstimmung zur Großen Koalition 2013/14 und die Mitgliederbefragung zum Vorsitz der BayernSPD im Jahr 2017.

Matthias Jobst

Mitgliederentscheid zum Koalitionsvertrag

 

Die Wahlen zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 brachten ein Ergebnis hervor, das weder im konservativen noch im progressiven Parteilager Begeisterungsstürme auslöste. Weder konnte die CDU/CSU mit dem Wunschpartner FDP koalieren, weil die Liberalen mit 4,8% den Einzug in das Parlament knapp verpassten, noch war eine rot-grüne Koalition möglich. Das progressiv-linke Lager träumte kurz von einer rechnerisch möglichen Zusammenarbeit von SPD, Grünen und Linken, die aber letztlich an zu großen inhaltlichen Differenzen schon vor Beginn eventueller Sondierungsgespräche zum Scheitern verurteilt war. Nach zwei Sondierungsrundenund mehr als zehn Stunden gemeinsamer Gespräche wurde ebenfalls deutlich, dass eine schwarz-grüne Koalition nicht zustande kommen wird (Hickmann 2013 - SZ). So blieb letztlich nur die Neuauflage der Großen Koalition als Option übrig. Das Machtverhältnis war dabei eindeutig: Die CDU/CSU war mit einem Ergebnis von 41,5% nur knapp an der absoluten Mehrheit gescheitert, während die SPD ihr historisch schlechtes Abschneiden von 23,0% bei der Bundestagswahl 2009 nur marginal auf 25,7% verbessern konnte und somit zur Rolle des Juniorpartners verdammt war (Böth/Kobold 2013: 851). Der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel aber hatte eine Idee, mit der sich die Verhandlungsposition der SPD deutlich verbesserte: Der ausgehandelte Koalitionsvertrag sollte vor Unterzeichnung den SPD-Mitgliedern zur Abstimmung gestellt werden. Statt wie bisher üblich durften also nicht mehr nur die Delegierten bei einem außerordentlichen Bundesparteitag ihr Votum abgeben, sondern es sollten alle Parteimitglieder in einer Briefwahl über das Zustandekommen der Großen Koalition entscheiden. Mit Verweis auf die notwendige Zustimmung der Parteibasis konnte so die SPD in den Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU eigene Projekte begründen und politische Forderungen der künftigen Partner abblocken (Rossmann 2013 - SZ). Es sollte ein Koalitionsvertrag mit einer deutlich sozialdemokratischen Handschrift entstehen. Am Ende lag dann auch die Abstimmungsbeteiligung der SPD-Mitglieder bei knapp 78% und mehr als drei Viertel stimmten für den ausgehandelten Koalitionsvertrag.

Doch noch bevor erste Mitglieder ihre Stimmen abgeben konnten, wurde die Verfassungsmäßigkeit dieser Unternehmung angezweifelt (Steinberg 2014: 402). Der Wortführer der Kritiker, Christoph Degenhart, glaubte eine Schwächung der parlamentarischen Demokratie und des freien Mandats zu erkennen: „Die Mitgliederbefragung ist als Auftrag an den Abgeordneten intendiert, bindet ihn faktisch nahezu unausweichlich in seiner Entscheidung und wirkt so erheblich in den staatlichen Bereich hinein” (Degenhart/Horn 2013: 7). Gleichzeitig wollten viele Beobachter eine Stärkung der innerparteilichen Willensbildung erkennen und die Attraktivität einer Parteimitgliedschaft nahm schlagartig zu: Endlich könne man bei einer großen und wichtigen politischen Entscheidung direkt einwirken (Bracht 2013 - SZ). Als logische Folge konnte die SPD somit im letzten Quartal 2013 deutlich mehr Eintritte verzeichnen als üblich (SZ 2013: 5). Allerdings wurden auch schnell Bedenken am Verfahren deutlich: So wurde der Koalitionsvertrag als Sonderausgabe der Parteizeitung vorwärts jedem der 473.000 Mitglieder per Post geschickt; versehen mit einem Vorwort von Sigmar Gabriel, der mit einem Zitat von Willy Brandt – „Das Wesen der Demokratie ist der Kompromiss“ – deutlich machte, dass der Parteivorstand die Zustimmung wünscht (Dose 2014: 520). In 32 Regionalkonferenzen versuchten zudem die Spitzenpolitiker der Partei, die kritische Parteibasis von der Qualität der ausgehandelten Bedingungen und politischen Kompromisse zu überzeugen – und letztlich auch die Angst vor einer erneuten Marginalisierung eines Merkel’schen Koalitionspartners zu nehmen (Auer 2013: 33). Eine große Werbemaschine war vom Parteivorstand angeworfen worden – groß war der Respekt vor einem ‚Nein‘ der Basis oder gar einem zu geringen Interesse, welches das Erreichen des notwendigen Quorums von 20% gefährden würde. Inwiefern also die Regionalkonferenzen notwendige Instrumente zur Willensbildung für die Parteibasis waren oder eher Plattformen für die Argumente der Parteiführung, darüber lässt sich streiten (Dose 2014: 524). Deutlich aber wurde, dass die Parteielite alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente nutzte, um ein klares ‚Ja‘ zum Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU zu erreichen: Die Nutzung des Zugriffs auf den Mailverteiler an alle Mitglieder, die positive Kommentierung des erreichten Verhandlungskunststücks in der Parteizeitung vorwärts, die Dominanz auf den Regionalkonferenzen und die von den gewählten Bundestagsabgeordneten und den Mitgliedern des Parteivorstands offensiv zur Schau gestellte Zustimmung zum Koalitionsvertrag. Der Mitgliederentscheid kann in dieser Perspektive somit als basisdemokratische Legitimation einer von der Parteielite gewünschten Regierungsbeteiligung und als Instrument der Durchsetzung formulierter politischer Ziele gegenüber den künftigen Koalitionspartnern gesehen werden. Die bayerische Mitgliederbefragung über den Parteivorsitz hingegen wirkt nur nach innen und folgt daher einer anderen Logik, wie folgend dargestellt werden soll.

Mitgliedervotum zum Parteivorsitz 2017

 

Am 3. Februar 2017 kündigte Florian Pronold für viele überraschend seinen Rückzug als Vorsitzender der BayernSPD an: Er werde beim nächsten Parteitag im Mai 2017 nicht mehr kandidieren. Als Nachfolgerin schlug er noch am selben Tag die Generalsekretärin der BayernSPD, Natascha Kohnen, vor (FAZ 2017). Bei der am Tag darauf stattfindenden Klausur des Landesvorstands der BayernSPD bringt Natascha Kohnen selbst ein Mitgliedervotum ins Spiel: Sollten mindestens zwei Kandidaten für das Amt der oder des Landesvorsitzenden zur Verfügung stehen, dürfen die Mitglieder entscheiden. Weil die Satzung der BayernSPD die Wahl der oder des Landesvorsitzenden ausschließlich durch regulär gewählte Delegierte bei einem Landesparteitag vorsieht, ist das Votum letztlich nur eine Mitgliederbefragung. Die möglichen Kandidaten mussten aber schriftlich erklären, dass sie sich an das Votum der Mitglieder gebunden sehen. Bis zum Ablauf der Bewerbungsfrist haben sich neben Natascha Kohnen noch fünf weitere Kandidaten gefunden: Uli Aschenbrenner, Klaus Barthel, Florian von Brunn, Markus Käser und Gregor Tschung. Allen sechs Kandidaten wird eine Homepage zur Verfügung gestellt, auf der sie sich beschreiben können und es werden sieben (eine pro Regierungsbezirk) Regionalkonferenzen abgehalten, bei denen sich die Kandidaten den interessierten Mitgliedern präsentieren können. Auf diese Weise sollte 'Waffengleichheit‘ sichergestellt werden. Die Mitgliederbefragung der BayernSPD war also als klares Bekenntnis zur Basisdemokratie gestartet. Das Label ‚Mitmachpartei‘ wurde vonseiten der kommentierenden Öffentlichkeit schnell in den Mund genommen und die BayernSPD konnte alleine im ersten Quartal 2017 rund 1.500 neue Mitglieder begrüßen (Mumme 2017). Schnell aber wurde deutlich, dass Natascha Kohnen als Generalsekretärin der BayernSPD über strukturelle Vorteile verfügt, die für die anderen fünf Kandidaten nicht aufholbar sind: So schreibt beispielsweise Florian Pronold selbst auf seiner Facebook-Seite er habe „schon vor zwei Jahren den inneren Entschluss gefasst, ihr den Vorsitz der BayernSPD anzutragen und das mit ihr gemeinsam vereinbart. Die Entscheidung, das jetzt im Mai zu vollziehen, haben wir bereits 2 Tage vor der überraschenden Nominierung von Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidat getroffen“ (Pronold 2017). In dieser Leseart hatte Natascha Kohnen also zwei Jahre Zeit sich für die Kandidatur zur Vorsitzenden der BayernSPD vorzubereiten. In ihrer Funktion als Generalsekretärin hatte sie auch alle Möglichkeiten sich innerhalb der Partei bekannt und beliebt zu machen. Auch während der Phase der Abstimmung, die offiziell vom 3. April bis zum 11. Mai läuft, tritt sie in ihrer Funktion als Generalsekretärin auf und lässt dies auch regelmäßig durch Pressemitteilungen (‚Aus dem Terminkalender der Generalsekretärin der BayernSPD‘) ankündigen (BayernSPD 2017a). Darüber hinaus haben sich führende Parteimitglieder und Parteiorganisationen offiziell für die Wahl Natascha Kohnens zur Landesvorsitzenden ausgesprochen: Die Arbeitsgemeinschaft der sozialdemokratischen Frauen (AsF) gab am 7. April eine Wahlempfehlung ab, die auch über den Presseverteiler der BayernSPD verschickt wurde (BayernSPD 2017b). Zudem hat sich die Juso-Bundesvorsitzende Johanna Uekermann im Straubinger Tagblatt vom 11. April für Kohnen stark gemacht und der Landesvorsitzende der Jusos, Tobias Afsali, erklärte ebenfalls in einem Facebook-Post  Kohnen gewählt zu haben (Afsali 2017). Darüber hinaus präsentierte Natascha Kohnen selbst am 10. April in einem Interview mit der Mittelbayerischen Zeitung ihren Kandidaten für den Posten des Generalsekretärs der BayernSPD: Uli Grötsch. Damit überrumpelte sie ihre fünf Gegenkandidaten, nachdem man sich bei den vergangenen Vorstellungskonferenzen noch darin einig war, kein Personaltableau zu präsentieren, bevor die Abstimmung vorüber ist (Schröpf 2017).

Unabhängig von fachlicher Eignung, politischer Positionierung, Charisma und Führungsqualitäten der sechs Kandidaten hat die Generalsekretärin und Kandidatin für den Landesvorsitz Natascha Kohnen ihre strukturellen Vorteile klar genutzt und sich damit einen Vorsprung erarbeitet. Gerade als Generalsekretärin, das Amt, das Kohnen seit 2009 ausfüllt, hat sie exklusiven Zugang zu den Parteimitgliedern der BayernSPD. Bei einer Mitgliederbefragung ist das ein starkes Gewicht; gerade dann, wenn die anderen Kandidaten für den Vorsitz vielen Mitgliedern eher unbekannt sind, weil sie bislang weder bundes- noch landespolitisch in Erscheinung getreten sind. Von den sechs Kandidaten haben drei ein Mandat: Kohnen und von Brunn sind Landtagsabgeordnete, Barthel Bundestagsabgeordneter. Tschung, Käser und Aschenbrenner kommen ‚von unten‘: Sie sind weder Teil des  Landesvorstands noch überregionale Mandatsträger. Vergleicht man diese Voraussetzungen mit dem Landesparteitag 2015, bei dem der nahezu unbekannte Kandidat Walter Adam mehr als 30 Prozent gegen den amtierenden Landesvorsitzenden Florian Pronold holte, ist bei der Mitgliederbefragung keine solche Überraschung zu erwarten. Würden ausschließlich die Delegierten bei einem Landesparteitag über die sechs möglichen Kandidaten abstimmen, wäre das Ergebnis unberechenbarer. Die Vorsitzenden der sieben Bezirksverbände in der BayernSPD hätten ein gewichtiges Wort mitzusprechen. Deren Einflussnahme wurde durch die Mitgliederbefragung komplett ausgehebelt. Im Namen der Basisdemokratie setzt sich so die Parteielite gegen die mittlere Funktionärsebene durch.

 

Fazit: Einflussverlust der Basis trotz basisdemokratischer Beteiligung

 

Die beiden basisdemokratischen Verfahren eint also, dass sie darauf abzielen, eine von der Parteielite gewünschte Politik per Akklamation zu legitimieren. Die SPD wollte 2013 ein klares ‚Ja‘ zur Großen Koalition und hat es mithilfe des Mitgliederentscheids bekommen; die Führung der BayernSPD wollte Natascha Kohnen als neue Parteivorsitzende und wird das mithilfe der Mitgliederbefragung ebenfalls erreichen. Wie der Politikwissenschaftler Peter Mair beschreibt, waren in traditionellen Volksparteien die Delegierten und Aktivisten, in vielen Fällen auch angeschlossene Organisationen wie Gewerkschaften wichtige Veto-Spieler, die ihre Kontrollfunktion auf Parteitagen ausüben konnten (Mair 1997: 144ff.). Indem die Parteispitze nun eine nicht organisierte und „daher kaum kritikfähige Masse an individuellen Parteimitgliedern“ (Detterbeck 2016: 117) befragt, werden diese Akteure nun umgangen und in ihrer Macht beschränkt und ausgehebelt. Dieses pseudo-demokratische Verfahren ist ein typisches Beispiel des modernen Parteityps der Kartellpartei, die von Katz und Mair zum ersten Mal beschrieben wurde (Katz / Mair 1995). Zentraler Bestandteil der Kartellparteitheorie ist die starke Stellung der Parteielite. Die Mitgliederbasis werde demnach kaum mehr benötigt, da die Partei finanziell nicht auf Mitgliedsbeiträge angewiesen ist, weil die staatliche Parteienfinanzierung hoch genug und die Fraktionen und Mandatsträger mit ausreichend Ressourcen ausgestattet sind. Darüber hinaus entfällt die Mobilisierungsfunktion der Parteibasis in den Wahlkämpfen, weil durch den exklusiven Zugang zu den Medien und den direkten Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürger durch das Web 2.0 und Social Media die Parteielite und die Amts- und Mandatsträger persönlich in Kontakt mit den Wählerinnen und Wählern treten können.

 

So paradox es klingt: Trotz mehr basisdemokratischer Beteiligung verliert die Parteibasis an Einfluss.